Keine Bille – Kein Hamburg

Zur Geschichte eines unentbehrlichen Nebenflusses

Acht Brücken kreuzen die Bille auf ihren letzten 1000 Metern vom Kraftwerk Bille bis zur Mündung in den Hamburger Hafen an der Brandshofer Schleuse. Der kleine Fluss, der längst nicht mehr so richtig fließt, scheint der Stadt im Weg zu sein. Zugeschüttet, vergiftet, kanalisiert, sehr ungestylt und sehr unauffällig windet sich die Bille heute durch den Osten Hamburgs.

Kaum anzunehmen, dass jemand auf die Idee käme, sie als Namensgeberin für – zum Beispiel – einen neuen Stadtteil in Anspruch zu nehmen. Das war einmal anders: Als die Stadt 1913 ein bilderbuchhaftes Industriegebiet aus dem Marschboden südlich des Flusses stampfte, dachte man sich dafür den Namen „Billbrook“ aus. Und als 1928 drei nördlich davon gelegene Landgemeinden fusionierten, wollten sie fortan „Billstedt“ heißen (und nicht „Klein-Moskau“, wie es die KPD-Fraktion im Gemeinderat vorschlug). Die Bille hatte offenbar etwas. Und hat sie noch. Zum Beispiel eine wichtige Rolle in der Geschichte Hamburgs – um nicht zu sagen Norddeutschlands: Als Karl der Große die Sachsen mit der Unterwerfung Widukinds 785 einigermaßen unter Kontrolle gebracht hatte und den Norden seiner christlichen Expansion sortierte, bestimmte er im Jahr 786 die Bille – „Bilena“ – zur Grenze zwischen dem Bistum Verden und dem (allerdings erst so richtig einzurichtenden) Bistum Hamburg1). „Nordelbien“ trat in das Licht der geschriebenen Geschichte und das tat es an der Bille.

Licht der Geschichte – Bille: 1, Hamburg: 0

Hamburg war da noch ein besserer Bauernhof mit Bootsanleger, die Hammaburg ein wackliger Palisadenzaun ohne urkundliche Erwähnung. Zum Zentrum der nordelbischen Mission war die Burg Esesfeld bei Itzehoe auserkoren, zu ihrem Chef ein gewisser Bischof Ebo. Hätte der nicht irgendwann gegen Kaiser Ludwig den Frommen aufgemuckt, die Siedlung an der Alster wäre ein Provinznest geblieben, die Stör wäre die Alster und die Elbbrücken verbänden Glückstadt und Wischhafen2). Doch Ebo probte den Aufstand, erfolglos, Esesfeld fiel in kaiserliche Ungnade und Ebo wurde durch Bischof Ansgar ersetzt. Der bezog im Jahr 834 Quartier an der Alster, baute dort die Hammaburg aus, tat das allerdings nicht wikingerfest genug und musste sich deshalb 845 nach Bremen davonmachen. Die Hammaburg und ihre Siedlung hatten danach noch 200 Jahre lang einige Mühe zum Beispiel mit slawischen Stämmen und Wikingern, die es ihrerseits mit dem Christentum nicht so hatten. Doch der zunächst sächsische, dann schauenburgisch-holsteinische Adel, die weltliche Herrschaft des Landes, sorgte sich gemeinsam mit der Geistlichkeit weiter um den Ausbau von Stadt und Hafen.

Erster Hafen an der Bille

Ohne die Bille wäre das kaum etwas geworden. Unterhalb, direkt südlich des Geestsockels mit der Hammaburg verlief ein Mündungsarm der Bille, auf dem heutigen Stadtplan etwa von der Brandshofer Schleuse zu den Deichtorhallen, dort Richtung Chilehaus abbiegend via Hopfensack und Reichenstraße westwärts zur Alster. Dieser Wasserlauf versorgte im 9. Jahrhundert den ersten Hafen der Stadt, einen langen Brettersteg, mit der notwendigen Wassertiefe. Der erste Hamburger Hafen war eher ein Bille- als ein Alsterhafen – und blieb bis 1877 als Reichenstraßenfleet erhalten (genau: hier).

Achtern (da wo an Steuerbord das Steuerruder ist) geht’s zur Bille, voraus zur Alster: Hamburgs ersten Hafen kann man dank des Archäologischen Museums bei google-streetview anschauen.

Auch für die Sicherheit der entstehenden Stadt war die Bille unverzichtbar. Mit ihrem Unterlauf deckte sie die Süd- und Ostflanken der Stadt ab. Als Flussdelta unter Tideeinfluss war die Niederung, die heute von Hammerbrook, Brandshof und HafenCity belegt ist, so gut wie nicht passierbar, schon gar nicht für militärische Unternehmungen. Das sich stetig ändernde Gewirr aus Wasserläufen, Sandbänken, Prilen, flachen Inseln – den „Werdern“ –, Schilf- und Auwald-Flächen – den „Reits“ und „Brooks“ – an Bille und Elbe kann man sich kaum unübersichtlich genug vorstellen. Täglich vier Mal wechselnde Tideströmungen und Wasserstände, Treibgut, Oberwasser-Fluten im Sommer, Sturmfluten und Eis-Stauungen im Winter machten das Binnendelta zu einer oft bedrohlichen Wildnis, in der die Natur das Sagen hatte.

Wobei die Bille sicherlich gegenüber den Elbarmen südlich der Stadt noch etwas zugänglicher – weil näher am Geesthang gelegen – war. Und so darf man annehmen, dass hier Schilf-Abbau, Fischfang, vielleicht auch schon Beweidung und die Gewinnung von Sand, Klei und Erde zum Alltag der frühmittelalterlichen Bewohner:innen gehörten. Für einige Jahrhunderte wird die Bille auch eine wichtige Rolle für die Flößerei, also den Antransport von Holz, dem wichtigsten Baumaterial der Zeit, gespielt haben, verband sie doch die östlich gelegenen Geest-Wälder ziemlich direkt mit der Stadt.

Neues Land – neues Einkommen

Auf Dauer war eine derart minimale Nutzung der Marschen für die wachsende Bevölkerungszahlen und Herrschaftsorganisation des Mittelalters nicht akzeptabel. Mit Bedeichungen hatte man zuerst an den Nordseeküsten neue Siedlungs- und Wirtschaftsräume erschlossen – und damit den Macht- und Einkommensbereich der jeweiligen Herzogschaften und Bistümer erweitert. So kamen auch die Grafen von Holstein auf den Gedanken, dass die Landgewinnung in den Bille- und Elbmarschen ihnen ein schönes neues Einkommen verschaffen könnte und luden Fries:innen und Holländer:innen dazu ein, ihr Deich-Knowhow auch hier anzuwenden. Der Deal lautete im Prinzip: „Wir überlassen euch die Tidegebiete – ihr deicht das Land ein und bewirtschaftet es – wir kassieren ein paar Abgaben, lassen euch aber sonst weitgehend in Ruhe.“

Anfang bis Mitte des 12. Jahrhunderts, unter den holsteinischen Grafen Adolf I. und Adolf II., begann der Prozess der Bedeichung – auch „Kolonisation“ oder „Kultivierung“ – der an der Bille gelegenen Marschen und dauerte bis Mitte des 14. Jahrhunderts an. Wann genau welcher Deich geschlossen war, ist aus den alten Quellen nicht zu lesen. Schon eher, dass diese neuen Ländereien Begehrlichkeiten weckten, die zwischen diversen Landes- und Kirchenfürsten auszuhandeln waren. So ist schon 1162 von die Zuordnung von Gebieten in Billwerder zum Bistum Ratzeburg die Rede, die dann 1178 wieder zum Erzbistum Hamburg zurückkehren. Der eigentliche Begriff – damals mit „ä“ oder auch „billenwerder“ – erscheint aber erst 1251 in den Urkunden. Es darf angenommen werden, dass spätestens dann die Bedeichung des Gebiets, das sich gut zehn Kilometer von Bergedorf entlang der Bille einer- und der (heutigen) Dove-Elbe andererseits bis zum Tiefstackkanal erstreckt, abgeschlossen ist. Für den östlichen Teil des Hammerbrooks – ab „Letzter Heller“ bis Grevenweg – wird die Bedeichung auf das Ende des 12. Jahrhunderts taxiert, die erste urkundliche Erwähnung findet sich im Jahr 13003). Der westliche Teil der Hammerbrooks – in der Linie Stadtdeich, Grüner Deich, Bullerdeich, Hammer Deich – dürfte 1258, als er rechtlich der Stadt zugeordnet wurde („Weichbildrecht“), eingedeicht gewesen sein. Bewirtschaftetes Land im Billwerder Ausschlag, westlich des Billwerders – heute vom Tiefstackkanal bis zum Billhorner Deich – wird erstmals 1330 erwähnt, als ein Probst Erich der Nikolaikirche Einkünfte aus Besitz „prope billenwerder, que utslag dicitur“ zusichert4).

Das Marschland erwies sich als fruchtbar und produktiv, die Besiedlung etablierte sich, obwohl Bau und Unterhaltung der Deiche von den Höfner:innen dort sehr viel zusätzlichen Aufwand forderten und obwohl es immer wieder zu Deichbrüchen und Überflutungen kam. Das mag auch mit der größeren Unabhängigkeit zusammenhängen, die die Marschbauern sich von ihren Landesherren hatten zusichern lassen. Bau, Erhalt und Sicherung der Deiche verlangte gemeinschaftliches Handeln, das sich in Deichverbänden organisierte und sich dafür ein eigenes Recht („Billwärder Landrecht“5)) gab.

Deich trifft Stadt

In der Umgebung Hamburgs trafen diese Gemeinschaft der „Deicher“ nun, im 13. und 14. Jahrhundert, auf eine Gemeinschaft der „Städter“, die immer mehr bestrebt war, sich von ihren Landesfürsten zu emanzipieren, seit 1188 das Stadtrecht genoss und wenig Neigung hatte, ausgedehnte fürstliche Ländereien direkt vor ihren Stadttoren zu dulden. Zum Glück brauchten die Grafen von Holstein immer Geld und die Hamburger begannen, die Marschengebiete an sich zu bringen. Ländereien wurden oft zunächst verpfändet, dann verkauft. So kamen im Jahr 1383 der Hammerbrook und die Inseln an der Mündung der Bille (Billhorn, Boizenwerder) und 1395 der Billwerder zu Hamburg. 6) Kurz darauf wurden der Ausschlag mit dem Billwerder zusammen gedeicht.

Mit dem Bau des Deichs südlich des inneren Hammerbrooks im Jahr 1258 – heute Brandshofs bis Stadtdeich (sog. Oberhafen-Connection) – hatte die Bedeutung der Bille für die Verteidigung und den Hafen der Stadt noch zugenommen. Der Graben, der durch den Deichbau vor dem Hammerbrooker Deich entstand, lenkte nun das Wasser aus der Bille in das so genannte „Deep“ (heute Oberhafen und Zollkanal). Damit gelangte es zunächst vor die neuen Stadtmauern und später, Mitte des 14. Jahrhunderts, in den inzwischen zum Kajen verlegten Hafen. Der erhielt so erstmals eine östliche Zufahrt und damit auch eine östliche Absperrung: den Oberbaum.

Ende des 15. Jahrhunderts hatte Hamburg seine Strombau-Fähigkeiten so weit entwickelt, dass es die Bille gegen die Elbe abdämmen konnten. Mit dem Bau der Bullenhuser Schleuse – heute Grüne Brücke – im Jahr 1492 wurde die Bille vom Tide- zum Binnengewässer. Der Hammerbrook und der Billwerder Ausschlag bildeten jetzt eine gemeinsame Deichlinie (Bullerdeich, Billwerder Steindamm, Billhorner Deich). Das hier entstandene Bullenhuser Schleusenhaus brannte zwar 1587 ab, wurde aber wieder aufgebaut und galt bis zur Bombardierung 1943 als Hamburgs ältestes Gebäude.

Das Bullenhuser Schleusenhaus stand südwestlich der Grünen Brücke an der Elbe. 1492 mit der Schleuse errichtet, brannte es 1587 ab, wurde wieder aufgebaut und überstand die Schussfeld-Bereinigung der Franzosenzeit, nicht aber die Bomben des Zweiten Weltkriegs. Bild aus Hamburg und seine Bauten, 1880

Sommersitz der Patrizier

Rund 14.000 Einwohner:innen hatte Hamburg 1517. Am Ende des 16. Jahrhunderts, nach Religionskriegen und Reformation waren es etwa 40.000. Es wurde zunehmend eng, laut und stinkig innerhalb der Stadtmauern. So starteten reiche Kaufleute eine Tradition, die sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein halten sollte: Sie kauften in der idyllischen, landwirtschaftlich geprägten Landschaft an der Unteren Bille Höfe und Ländereien auf und richteten sie als Sommersitz und Lustgarten für ihre Familien ein. Ein Pionier dieses Trends war der Kaufmann und Ratsherr Johann Rodenborg. Er kaufte 1614 ein etwa 27 Hektar großes Gehöft im Bereich des heutigen Wasserwerks und des Trauns Park am südwestlichen Ende des Billwerder Ausschlags. Schon bald war dieser Winkel allgemein als „Rodenborgs Ort“ bekannt. Bis er offiziell zum Namen des Stadtteils wurde, sollte es aber noch 350 Jahre dauern. Derweil entstanden nicht nur die Valckenburghschen Befestigungsanlagen, die Hamburg vor dem 30-jährigen Krieg beschützen sollten – und deren „Johannisbollwerk“ nach Ratsherrn Rodenborg benannt ist. Auch an der Bille war ein gewisser Bauboom festzustellen. Die Rote Brücke und die Grüne Brücke sind in dieser Zeit erstmals erwähnt, immer mehr Landsitze und Gartenhäuser entstehen am Fluss und am Hammer und Horner Geestrand.

Karte von Mollerus aus dem Jahr 1628 nach der Valckenburghschen Befestigung der Stadt.
Die Karte ist in der Staats- und Universitätsbibliothek unter PPN611986604 digitalisiert.

Auch der Deichbau kommt technisch voran: Nachdem die Bullenhuser Schleuse 1625 bei einer Sturmflut zerstört wurde, entsteht um 1626 der Billwerder Neuer Deich mit der Brandhofer Schleuse. Und als die Stadt ab 1679 ihre Befestigungsanlagen ausdehnt, wird auch der Hammerbrook einbezogen: Vom Berliner Tor bis zur Bille im Hammerbrook bildet eine Mauer mit Wassergraben nun ein „Retranchement“ – das spätere Hochwasserbassin –, eine kleine dreieckige Befestigung, die Billschanze, ragt in den Fluss7).

Einen hübschen Hinweis, auf die Bedeutung, den die Sommersitze an der Bille für die Hamburger Kaufleute hatten, gibt die kolportierte Drohung des kaiserlichen Gesandten Graf Schönborn aus dem Jahr 1712: „Wenn der Rath das Seinige für das Zustandekommen des Hauptrezesses nicht tue, 3 bis 400 Dragoner auf die Gärten von Billwärder zu verlegen.8) Und ein Senatsbeschluss vom 4. Juni 1738 dokumentiert, dass die Sommergäste an der Bille nicht durch Schwerlastverkehr gestört zu werden wünschten: „Auf Befehl Eines Hochedlen Raths wurde der Wache beym letzten Heller die Ordre gegeben, keine Fracht- noch Last-Wagen durch den Billwerder zu lassen, sondern dieselben anzuweisen, daß sie den sonst gewöhnlichen Weg über Schiffbeck nehmen9) Etwas südlich vom Letzten Heller war offenbar inzwischen die dritte Brücke über die untere Bille, die Blaue Brücke, gebaut worden.

Bille-Idyll bei der Blauen Brücke vom Schiffbeker Berg betrachtet um 1800: Mit Schwerlastverkehr (links), Reiter, Bettler, Schiffen und Pferden. Landstraße und Feld im Vordergrund sind allerdings Holsteinisch.

Die malerische Landschaft an der Bille veranlasste wohl auch den schriftstellernden Pädagogen Johann Heinrich Campe 1778 am Hammer Deich seine „Erziehungsanstalt“ zu eröffnen10). Hier sollten Hamburger Bürger:innenkinder nach der philanthropischen Pädagogik Johann Basedows zu Vernunft und Menschenfreundlichkeit ausgebildet werden. Das frühe Experiment der Aufklärungspädagogik, das im Geiste Jean-Jacques Rousseaus auf praktische Unterweisung und Turnunterricht statt auf lateinische Büffelei setzte, bestand fünf Jahre. Die Campestraße, die zwischen Bullerdeich und Billbrack daran erinnert hatte, ist vor einigen Jahren in Anton-Rée-Straße umbenannt worden. Auch Campes Bestseller, „Robinson der Jüngere“, war einst mit der Robinsonstraße hier geehrt worden11). Beide Straßennamen sind verschwunden, allerdings: Mit der abzweigenden Basedowstraße und der Salzmannstraße sind zwei Vorreiter der philanthropischen Pädagogik weiterhin vor Ort präsent.

Wimmelbid vom Kinderparadies: Die Campeschen Erziehungsanstalt am Hammer Deich in voller Aktion nach einer Radierung von Daniel Chodowiecki von 1778. In höherer Auflösungistz das Bild hier zu sehen (Wikipedia).

Flut, Krieg und nochmal Flut: Risse im Idyll

Als im Juli 1771 das Elbe-Sommerhochwasser nach einem Deichbruch bei Neuengamme die gesamte Hamburger Marsch für viele Tage metertief unter Wasser setzte, bekam das Bille-Idyll erste Risse. Die trägen Fluten hinterließen Schlamm und Sumpf. Viele der schönen Anwesen, auch viele Bauernhöfe und die Ernte des Sommers waren zerstört.

Mit seiner – gesüdeten – Kartenzeichnung setzt Wohlers 1772 ein „Denkmahl für die Nachkommenschaft, in einem accuraten Abrisse derjenigen Hamburgschen Gegenden, welche durch einem am 8. Juli 1771 vom Ober-Wasser in der Neuen-Gamme erfolgten Durch-Bruch des Elb-Deichs, welcher 600 Fuß weit war, bis an das Deich-Thor von Hamburg, überschwemmt worden sind.“ Links oben der Deichbruch.
Zoom on Hammerbrook: Die Karte gibt zudem einen sehr guten Überblick über die Strukturen der Bille-Landschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Der nächste Rückschlag für das Bille-Gebiet fiel in die „Franzosenzeit“. Wie in allen Stadtteilen vor den Befestigungsanlagen wurden auch in Hammerbrook und im Billwerder Ausschlag 1813/1814 Gebäude und Einrichtungen geschleift. Die Franzosen, die Hamburg besetzt hielten, bereiteten sich auf den Angriff russischer Truppen vor und sorgten für ein freies Schussfeld vor der Stadt. An der Grünen Brücke gab es Gefechte, das Bullenhuser Schleusenhaus aber überlebte, es war nicht abgerissen, sondern im Gegenteil als Bastion befestigt worden.

Eine weitere Flut, diesmal eine Sturmflut, verdeutlichte erneut die Risiken des Lebens in der Marsch. Am 4. Februar 1825 brach der Stadtdeich und überschwemmte den Hammerbrook.

Auch wenn die Flut von 1825 womöglich ein wenig weniger apokalyptisch ablief, als der Zeichner es schildert und Hammerbrook ohnehin im Winter oft überschwemmt war: Mit dem Bille-Idyll ging es nun langsam zu Ende. Die Mode änderte sich als erstes. Die Elbchaussee wurde zur neuen guten Adresse des Bürgertums. Die Vorliebe für barock angehauchte „holländische“ Gartenkultur mit geometrischen Formen, viel Wasser und Flächen wich dem Ideal des Landschaftsgartens nach englischem Vorbild. Das Bürgertum begann, sich auf die Geest zu orientieren. Und überließ die Marsch dem technischen Fortschritt, also der Dampfmaschine, der Eisenbahn und den Fabriken. An der Bille begann die Hochzeit der Projektentwickler, Techniker und Spekulanten.

Technische Wunderwerke, radikaler Wandel

Die radikale Veränderung der Marschgebiete an der unteren Bille thematisiert im Jahr 1898 der zu diesem Zeitpunkt 73 Jahre alte J. H. J. Schönberg in einem Weihnachtsgruß an seinen Freund Hein Wulff, indem er den Kontrast zu den gemeinsamen Jugendtagen am Stadtdeich in Erinnerung ruft:

„Zu der Zeit, als wir das Licht der Welt erblickten, hatten wir noch keine Eisenbahn und auch keine Straßen in Hammerbrook, im Sommer waren hier größtenteils nur Kuhweiden, Bleichereien, im Winter stand für gewöhnlich der ganze Hammerbrook unter Wasser, dann gab es bei Frostwetter eine schöne Schlitten- und Schlittschuhbahn vom Stadtteich bis zum Letzten Heller und quer ab, bis zur Rosenallee.“12)

Auch „sound and smell“ des vorindustriellen Stadtdeichs beschwört Schönberg herauf:

„Anfang Sommer kam unsere Gegend in einen sehr feinen Geruch, in dem dann mitunter 20-30 große Ewer, die wegen der Torsperre (…) nicht mehr an den Markt kommen konnten, mit ihren jungen Gemüsen, aber namentlich den kleinen süßen Vierländer Erdbeeren, deren Aroma wir heute gar nicht mehr kennen, dazu hatten wir ein paar Mal in der Woche die ganzen Nächte hindurch ein wunderschönes Konzert von 100 und mitunter noch mehr Kälbern (sogenannte Vierländer Kinder) mit Stimmen vom tiefsten Bass bis zum hohen C. Nicht weit hiervon ab lagen dann mitunter zehn oder noch mehr so genannte Zillen, beladen mit Brettern und sonstigem Nutzholz, diese Fahrzeuge hatten nun die Leidenschaft, dass sie immer durstig waren, trotzdem ihnen die Mäuler mit Moos zugestopft und mit Sägespänen gefüttert wurden, mussten die Leute, die auf diesen Panzerschiffen fuhren, die ganze Nacht abwechselnd das überflüssige Wasser wieder über Bord schöpfen, denn die Ware durfte nicht nass werden. Dieses, die ganze Nacht dauernde Plitsch! Platsch! Plitsch! Platsch! harmonierte nun ganz vorzüglich dem schönen Kälbergesang (…).“13)

1838 bewilligte die Bürgerschaft Geld zum Bau der Hamburg-Bergedorfer Eisenbahn.14) Der Streckenverlauf lag auf einem hohen Damm in gerader Linie vom Deichtor südostwärts, parallel zum Stadtdeich, die Bille an der Brandshofer Schleuse kreuzend und dann nördlich des heutigen Billhorner Kanals quer durch den Billwärder Ausschlag. Kanäle auf beiden Seiten des Damms sorgten für die Entwässerung und übernahmen damit die Funktion der Jahrhunderte alten Wetterungen. 1842 war Hamburgs erste Bahnstrecke fertig, genau rechtzeitig, um viele der Menschen, die beim Großen Brand von 4. bis 9. Mai in der inneren Stadt Wohnung und Habe verloren hatten, aus der Stadt zu bringen.
Im September des gleichen Jahres gab der Hamburger Rath die Pläne zur Aufhöhung und Kanalisierung des inneren Hammerbrooks frei. Sie hatten beim Brand schon in der Schublade gelegen, knüpften konzeptionell klar an den Eisenbahnbau an und wurden umgehend – Brandschutt war ausreichend vorhanden – ins Werk gesetzt.
Der Bau der zentralen städtischen Trink- und Löschwasserversorgung, der Wasserkunst in Rothenburgort mit ihrer Wasserleitung unter Banksstraße und Röhrendamm, begann 1844 und war 1848 die letzte, bis heute sichtbarste, der drei technischen Infrastrukturen, die die Übernahme der Marschlandschaft durch die Stadt ankündigten und vorbereiteten.

Die Erfindung des Projektentwicklers

Der britische Ingenieur William Lindley hatte für alle drei Projekte Konzept und Bauplan entwickelt. Für die politische Durchsetzung und den Geldfluss sorgten jedoch andere. Eine kleine Gruppe Hamburger Bürger um den Stock-Fabrikanten H.C. Meyer, den Investor Justus Ruperti und den Rechtsanwalt Amandus Abendroth traten als Projektentwickler im Hamburger Osten in Erscheinung. Sie gründeten Fördergesellschaften für ihre Vorhaben, organisierten Investoren und politische Mehrheiten und kauften derweil systematisch Grundstücke und Höfe im Projektgebiet auf. Manches davon, wie die Grundstücke im Hammerbrook oder am Röhrendamm, rentierte sich schnell. Anderes brauchte länger um zu reifen: So stieg die Hansestadt erst 1870 in die bis dahin private betriebene Hamburg-Bergedorfer Eisenbahn ein. Und noch als die Stadt 1891 endgültig die Verantwortung für Deichbau und -unterhaltung in Hammerbrook und im Billwerder Ausschlag übernahm, zahlte sich das für die Familien Meyer und Abendroth aus: Ihnen gehörten inzwischen 148 der insgesamt 264 Strecken der alten Deichverbände, sie erstritten eine Entschädigung für den Verlust der historischen – aber längst nicht mehr wirksamen – Deichrechte daran.16)

Einige Jahre nach seinem Tod 1848 stifteten dankbare Freunde ein bescheidenes Denkmal für H.C. Meyer, den obersten Investor des Hammerbrooks. Nach mehreren Umzügen hat die spitze Stele im runden Zaun inzwischen einen Platz am Südufer des Mittelkanals gefunden.

Besiedlung kommt in Schwung

Mit Beginn der 1870er Jahre kam die Besiedlung des inneren, zu St. Georg zählenden Hammerbrooks und des Billwerder Ausschlags richtig in Schwung. Die Torsperre war mit Beginn des Jahres 1861 endlich aufgehoben worden. Mit dem Bau des tideoffenen Seehafens, der Politik des Kolonialismus, den technologischen Sprüngen des späten 19. Jahrhunderts und dem Boom der Fertigungsindustrie wuchs Hamburg explosionsartig. Entlang der Bille gründete eine Fabrik nach der nächsten, frei verfügbares Fluss- und Abwasser waren unverzichtbar für chemische Industrie, Brauereien, Spinnereien, Eisenwerke und viele mehr.17) Im Hammerbrook und entlang des Röhrendamms reihten sich die – schon damals so genannten – Mietskasernen aneinander. Die Fassaden der fünfgeschossigen Vorderhäuser säumten die neu angelegten Straßen. Die langen Grundstücke dahinter waren meist mit sogenannten Terrassen bebaut, schmale drei- oder viergeschossigen Hausreihen beiderseits an einem schmalen, quer zur Straße verlaufenden Hof.

Ausfahrt aus der zweiten Hammerbrookschleuse in den Hammerbrook um 1890. Unter Banksstraße und Eisenbahbrücke hindurch geht es in das Kanalsystem des Inneren Hammerbrooks.

In den 40 Jahren von 1855 bis 1895 stieg die Zahl der Einwohner:innen im westlichen Billwerder Ausschlag – also Rothenburgsort – von 2.400 auf 29.000, in St. Georg-Süd – also dem Hammerbrook westlich des Hochwasserbassins – lebten 1892 45.000 Menschen. Viele von ihnen hatten kurz zuvor ihre Quartiere südlich der Innenstadt wegen der Einrichtung des Freihafens und des Baus der Speicherstadt verlassen müssen. Richard Evans resümiert in seiner Geschichte der Cholera-Jahre in Hamburg mit Bezug auf die 1890er Jahre: „Der Billwärder Ausschlag war einerseits mit der größten Bevölkerungsdichte [2316 Einwohner:innen pro Hektar bebauten Landes], dem höchsten Prozentsatz an Lohnabhängigen [76 %] und andererseits mit dem niedrigsten jährlichen Pro-Kopf-Einkommen [unter 400 Mark], dem geringsten Anteil an wirtschaftlich selbstständigen Einwohnern [15 %] und an Haushalten, in denen Dienstboten lebten, der ärmste aller Bezirke.”18) In St. Georg-Süd waren im Vergleich weniger unständige Hafenarbeiter und mehr qualifizierte Industriearbeiter ansässig, auch das kleinbürgerlich-selbständige Klientel war stärker vertreten. Doch beide Stadtteile entwickelten bald einen soliden Ruf als Proletarier-Quartiere: Bei der Reichstagswahl am 20. Februar 1890 fuhr August Bebels Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) im Billwerder Ausschlag 77 %19), im Wahlbezirk 41 an der Süderstraße sogar 94 % der Stimmen ein.20)

Die Arbeiterbewegung probiert sich aus

Schon im Sommer 1869 hatte die Arbeiter-Bewegung sich erstmals an der Bille ausprobiert. Die Kürzung ihrer Löhne beantworteten die Arbeiter der Lauensteinschen Waggonfabrik in der Spaldingstraße mit einem Ausstand. Als eine Abordnung der Streikenden am 7. September vor dem Wohnhaus des Direktors Kirchweger beim Zweigwerk im Billwerder Ausschlag – heute Lidl an der Ausschläger Allee – erschien, ergriff Kirchweger die Flucht, stürzte dabei und erschoss den Schmied Wonsel, der, so hieß es, ihm aufhelfen wollte. Das Wohnhaus wurde geplündert, die Firma ging in Konkurs, der DGB erinnerte 2014 an die Ereignisse mit einem Wandgemälde an der Westfassade des Gewerkschaftshauses.21)

Ein Mural von Hildegund Schuster feiert seit 2014 am Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof den Kampf der Lauenstein-Arbeiter.

Einen Einblick in Alltag und Lebensgefühl der Proletarier in den Schnellbau-Stadtteilen um die Jahrhundertwende erlauben die Erinnerungen von Robert Batty in Hermann Hinrichsens Bille-Buch. Neben einigen großartigen Kindheitsanekdoten ist dort über Battys Wohnstraße, die Olgastraße westlich der Brandshofer Schleuse, zu lesen:

„De Olgastroot weur düster und gries. Keen Boom stünn doar, un de Sünn kreegt blot de Dächer von de hogen Hüs tofoten. (…) Un doch heewt Minschen jemmer Lewen doar lewt (…) As Schauerlüd, Kohlen- und Hobenarbeiter trocken se morgens vor soß los, das Brod inne Tasch un de Koffietank over de Schuller. In de Banksstroot keumen se in den groten Strom, de Morgen for Morgen no den Hoben drew. Mit de Strootenbohn fohren wer to dür, dat kost’n Groschen. Un obends, kemen se schietig wedder, wuschen sick, eeten warm Middag, keken inne Zeitung oder setten sick ant Finster un kieken de Stroot hendohl. Blot sünndags slopen se ut, gungen morgens no’n Putzbüdel und püttjern een beten inne Wohnung oder up’n Böhn. Nahmiddags gungen se mit Fro un Kinner spazeeren, up’n Stadtdiek, no de Moorweide, oder se gungen no de Peute, wo Paul Wilson mit sein Elvira ‚mit dem Kopfe nach unten hängend‘ mit een Luftballon upsteg.“22)

Die Stadt richtet sich an der Bille ein

Auf Eisenbahn, Aufhöhung und Wasserkunst folgten nicht nur Fabriken und Wohnhäuser, auch die technischen und sozialen Infrastrukturen des Gebiets wurden kontinuierlich erweitert.

1872 wurde mit der Eisenbahnstrecke nach Hannover die erste Elbbrücke eröffnet, 15 Jahre später folgte die erste Straßenbrücke über die Elbe, die „Neue Elbbrücke“. 1878 bekam die Norderelbe mit dem Durchstich südwestlich von Kaltehofe ein neues Flussbett. Ende der 1880er begann der weitere Ausbau des Hammerbrooks in Richtung Osten, 1896 eröffnete am Bullerdeich Hamburgs erste Müllverbrennungsanlage, das Kraftwerk Bille, damals noch als Kraftwerk Campestraße, lieferte seit 1901 Strom aus Steinkohle.
1880 übernahm die Stadt den alten Garten der Rodenborgs, Meyers und Trauns am Ausschläger Elbdeich als öffentlichen Park (heute: Traunspark und Wasserwerksgelände). Seit 1885 gab es eine schwimmende Badeanstalt für Frauen in der Bille, in ihr wurden im Sommer des folgenden Jahres 116.063 Bäder genommen23).

Grundriss der Badeanstalt für Frauen auf der Bille. Das “schwimmende Schwimmbad” als Pontonanlage war Ende des 19. Jahrhunderts der Standard. Auf der Veddel und später auf Kaltehofe entstanden ähnlich konstruierte Anlagen. 24)

1885 wurde auch die St. Thomas Kirche in Rothenburgsort geweiht, erst 16 Jahre später die St. Annenkirche in Hammerbrook25). Als 1892 die letzte große europäische Cholera-Epidemie in Hamburg ausbrach, hatte der Billwerder Ausschlag die größte Sterblichkeit zu beklagen. Die Erreger waren mit dem Trinkwasser aus der Elbe über die Wasserkunst in Rothenburgsort direkt in die Hamburger Haushalte geliefert worden. Im Jahr darauf nahm die eilig fertig gestellte Sandfiltration des Wasserwerks Kaltehofe den Betrieb auf. Seit 1898 gab es eine Volksschule in der Marckmannstraße und eine Kinderpoliklinik am Röhrendamm.

Kneipenrundgang: „Swattsur, Mettwurst un Käs”

Im Jahr 1895 wurden bei einer Bevölkerungszahl von 29.207 im Billwerder Ausschlag 151 Gastwirte mit 308 Beschäftigten gezählt – umgerechnet auf die heutige Einwohnerzahl von rund 9.000 wären das etwa 50 Kneipen im Stadtteil. Wie es in diesen Kneipen, die oft als „utkiek“, als Vermittlungsstelle für unständige Hafenarbeit dienten, aussah, schildert Bernhard Hopp in seinen Kindheitserinnerungen aus den 1900er Jahren. Familie Hopp wohnte am Billhorner Röhrendamm, der Vater war Kohlentrimmer und nach der Schicht wurde oft der Staub mit Bier heruntergespült…

„So blieb es nicht aus, daß, wenn es zu lange dauerte, meine Mutter zwei von uns drei Jungen als Lotsen ausschickte. Unten bei der Thomaskirche fingen wir an, und bei Stemmler in der Brückenstraße hörten wir auf. Die Kneipen sahen sich alle ähnlich, die Theke mit dem Spiegelglas, vor dem die Gläser standen, ein Musikautomat mit einer großen Messingscheibe, die sich drehte und eine tingelige Musik von sich gab, der Schokolade-Automat und an den Wänden Klubbilder und Vareté-Plakate (…). Ein gerahmtes Bild vom Schnelldampfer „Deutschland“ von der HAPAG ist mir ebenfalls in guter Erinnerung. Der Wirt in Weste und weißen Hemdsärmeln beherrschte außer der Theke noch einen Glasschrank mit „Swattsur, Mettwurst un Käs”, Bismarckheringen und sonstigen Delikatessen. Die Decke war verräuchert, ein Ölfarbensockel mit Fries, darüber eine schmuddelige Leimfarbe mit einem schablonierten Muster, von dem nur noch Reste zu sehen waren. Es gab „een Lütten to fif“, „een tein Penns-Zigarr förn Sünndag“ (die normale Zigarre kostete 5 Pfennige, eine Zigarette 1 Pfennig). Der teuerste Grog (Stern-Annis) kostete damals schon 30 Pfennige, und dann gab es natürlich „Köm un Beer“ (…)
Wenn ich vom Hause wegging, hatte meine Mutter oft Tränen in den Augen, kam ich mit meinem Vater nach Hause, dann war sie heiter und tat, als wäre nichts gewesen. So erinnere ich auch nicht, daß es jemals Krach gegeben hat, im Gegenteil, meine Mutter erzählte uns Wunderdinge „watt een fein Kerl uns Vadder is“, und mein Vater versuchte oft auf unseren Heimwegen, mir klar zu machen, daß ich keine Ahnung hätte, was für „een fein Deern“ sie früher war und daß es „sonn Mudder wie Din Mudder nich wedder gift.“26)

Turnhalle selber machen

Viele der Gastwirtschaften dienten auch als Vereins- und Turnlokale. Zunächst, in den 1870er Jahren, hatten sich Bürgervereine gegründet, Interessenvertretungen der – wahlberechtigten – Grundeigentümer. In den 80er Jahren kamen, immer strikt innerhalb der Klassengrenzen, bürgerliche Gesangs-, Turn- und Kegelvereine hinzu. In den 1890er, nach Aufhebung der Sozialistengesetze, zog die Arbeiterbewegung nach. Vor allem die Turn- und Sportvereine wurden zu einem wichtigen Begegnungsort und Sammelbecken der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Organisation.

1896 gründete sich am 29. November im Club- und Ballhaus Marienhof am Grünen Deich die „Freie Turnerschaft Hammerbrook“. Einen Tag zuvor war der Aufruf dazu im SPD-nahen Hamburger Echo erschienen, darin hieß es: „Achtung Arbeiter Hammerbrooks! Schon seit Langem ist es Wunsch vieler Arbeiter und speziell junger Leute, im Hammerbrook einen Arbeiterturnverein zu gründen. (…) Kommt und zeigt, dass Ihr gewillt seid, Eure Gesundheit zu erhalten und zu stärken. Kommt und gründet einen freien Turnverein, wo Euer Körper wieder gesundet und der Geist klarer und scharfsinniger wird.“ Zwei Jahre darauf wechselte der Verein das Lokal und turnte nun im Tivoli am Billhorner Röhrendamm – inzwischen auch mit einer Damenabteilung. Anders als die bürgerlichen Vereine, stießen die Clubs des Arbeitersports bei den Behörden auf Ablehnung, ja Repression, und wurden vor allem als sozialistische Tarnorganisationen betrachtet. Staatliche Turnhallen, etwa an Schulen, standen ihnen selbstverständlich nicht zur Verfügung.

“Abend für Abend 80 und mehr Turnerinnen auf dem Turnplatz…”, berichtet die Vereinschronik der Freien Turnerschaft Hammerbrook-Rothenburgsort um 1910.

So baute der FT Hammerbrook-Rothenburgsort 1913 als erster Verein des Arbeitersports in Hamburg seine eigene Turnhalle. Ein Grundstück fand sich in der Großmannstraße, es lag unmittelbar nördlich des heutigen Rosengartens für die Kinder vom Bullenhuser Damm. Mit Festen, Tombolas, Sammlungen und durch Anteilsscheine wurde ein Großteil der nötigen Mittel aufgebracht, den Rest finanzierte der gewerkschaftliche Konsumverein „Produktion“. Ein Spiel- und Sportfeld, der Gutsmuthsplatz, entstand einige hundert Meter weiter östlich, der Name einer kurzen Straße die zwischen Chemiefabrik und Lagerhallen nördlich von der Großmannstraße abzweigt , weist Eingeweihte bis heute darauf hin27).

Die Freie Turnerschaft Hammerbrook-Rothenburgsort schreitet zur Party auf der Peute. Festumzug auf der Billhorner Brückenstraße in den 1920er Jahren.

Ein weiterer legendärer Hammerbrooker Arbeiter-Sportverein war der SC Lorbeer von 1906. Er ging auf eine Schlagballmannschaft zurück, die mit ihrem offenbar ansehnlichen Spiel auf den Straßen des Stadtteils einige Fans gewonnen hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg wechselte Lorbeer zum Trendsport Fußball, Training und Heimspiele fanden an der Marckmannstraße in Rothenburgsort statt. Zwei Mal – 1929 und 1931 – wurde dieser Verein Bundesmeister im Arbeiter-Turn- und Sport-Bund. Mittelstürmer war jeweils „Old Erwin“ Seeler, Ewerführer aus Rothenburgsort28).

Treffpunkt Grüne Brücke

Neben Turnen, Fußball und „Kraftsport“ – bei Goliath von 190339) – waren in den Quartieren an der Bille die Wassersport- und Rudervereine von besonderer Bedeutung. Das Revier der bürgerlich ausgerichteten Vereine war schon damals eher die Alster. Die Rudervereine an der Bille scheinen alle eher dem Arbeitersport zuzuordnen zu sein. Sie zeigten jedoch sehr viel weniger deutlich eine politische Ausrichtung als die Arbeiter-Turnvereine. 1933 wurde ihr Dachverband, der Norddeutsche Ruder-Bund, recht geräuschlos gleichgeschaltet, nicht verboten. Der erste Ruderverein an der Bille, der „Biller Ruder Club“ wurde 1883 an der Grünen Brücke gegründet und hat sein Vereinshaus inzwischen auf der Billerhuder Insel. An der Grünen Brücke liegt heute die „Rudervereinigung Bille von 1896“, einst unter dem klingenderen Namen „Biller Ruderclub Palmyra“ gegründet

Die Ruderer des Biller Ruder Club präsentieren ihre Neubauten auf dem Weg zur Bille: Umzug im Billwerder Steindamm 1925, im Hintergrund der Hammer Deich (heute: Shell Tankstelle)

Die Schilderung der Szenerie an der Brücke an einem allgemeinen Ruder-Trainingsabend in den 1920er Jahren macht deutlich, warum sie im Viertel den Spitznamen „Klockschieterbrüch“ hatte:

Der letzte Schlepper von Peter Lüdgens ist mit seinen zehn Schuten Holz für Renner unter der Grünen Brücke hindurch und verschwindet eben hinter dem Knick der Bille bei der Reismühle in Richtung Inselspitze. Die Bille liegt glatt wie ein Spiegel, dann dröhnt es plötzlich unter der Brücke „Wum – Wum“. Heran kommt die Sechser Gig von Vineta. Warum kommen die schon so früh? Sicher müssen Willi Petzold und Köster noch zur Nachtschicht und deshalb müssen sie vorher noch trainieren.
Und nun wird der Trainingsabend offiziell eröffnet. Auf der grünen Brücke erscheint die „Gelbe Gefahr“: Jan Witt von Palmyra in seiner gelben Jacke. Etwas abseits hat sich Ernst Puttfarken und Emil Mauritz vom BRC postiert und versuchen, Emil Kraese von Freiheit zu Billers Preis-Schafskopf einzuladen. Die Brückengeländer sind mittlerweile schon alle besetzt und es entstehen überall Debattierklubs, in denen die Trainierenden schlecht wegkommen. Vor dem Ersten Weltkrieg, das waren noch Rennen, aber heute! (…) Ganz scharfe Konkurrenten werden mit der Stoppuhr gestoppt und das ging folgendermaßen vor sich, dass ein Radfahrer zum Start zur [Billerhuder]Inselspitze fuhr, abstoppte, Stoppuhr einschalten und im Mordstempo auf dem Inseldeich über den Bullenhuser Damm zur Grünen Brücke fuhr, und hier das Boot beim Endspurt noch erwischen.
Während August Rolff vom Biller in aller Gemütsruhe bei Edje Timm sein Bier austrinkt und gute Nacht sagt, sieht man noch die Spätheimkehrer mit der Bootslaterne im Steven dem Bootshaus von Konkurrent zu streben.29)

Die Stadt baut aus

Die Bebauung des Hammerbrooks und des Ausschlags schritt auch im 20sten Jahrhundert voran, die systematische Aufhöhung der Marschgebiete setze sich nach Osten fort. Die Bille war um 1900 bis hinter die Rote Brücke 30 Meter breit und 2 Meter tief ausgebaut worden und inzwischen als „nordische Wupper“ bekannt, insbesondere am Billbrookdeich hatte sich einen beeindruckende Zahl von Fabriken angesiedelt.30) 1902 nahm die Tiefstackschleuse ihren Betrieb auf, 1910 wurde die die Liebigbrücke über den neuen Tiefstackkanal gelegt, 1916 der Durchstich von dort zur Bille geschaffen.
Der westliche Billwerder wurde 1912 als neuer Vorort „Billbrook“ der Industrie gewidmet, dann bis in die 20er Jahre hinein Schritt um Schritt aufgehöht und mit Kanälen und Gleisanschlüssen versehen. Eine Zinkhütte (1908) und das Heizkraftwerk Tiefstack (1916) ergänzten Hamburgs schon reichlich verqualmten östlichen Horizont um weitere Schlote. 

Viele mehrgeschossigen Speichergebäude und (Miet)Fabriken entstanden in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg als moderne Eisenbeton-Konstruktionen. Viele haben den Feuersturm von 1943 auagehalten und sind bis heute in Funktion sind. Das Mercedeshaus auf der Billhorner Brückenstraße (ca. 1914) und der „Havex“-Speicher am Haken (1910) sind Beispiele dafür, ebenso die Darmsortiererei und Mietfabrik Wendenstraße 45 (1910) und die Schokoladenfabrik in der Wendenstraße 130 (1908).

Blick vom südlichen Billhorner Deich in Richtung Westen in den späten 1920er Jahren. Von rechts kommt die Bille (kurz nach der Grünen Brücke), links der Billekanal. Im rechten Hintergrund die Bahnbrücke über die Bille und der Ladekai des Kraftwerks Bille/Campestraße. Foto: Werner Perlitz

Eine elektrische Straßenbahn gab es in Hammerbrook und Rothenburgsort schon seit Mitte der 1880er Jahre. Mit dem Bau des Hauptbahnhofs entstand 1906 der Bahndamm, der das Gebiet in Nord-Süd-Richtung durchschneidet und auf dem ab 1907 die Vorortbahn über Berliner Tor nach Rothenburgsort verkehrte. Eine Hochbahnlinie vom Besenbinderhof über den Nagelsweg und die Billstraße komplettierte das Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln im Jahr 1915.

An der Kreuzung Süderstraße und Heidenkampsweg, dem Schnittpunkt von drei Straßenbahnlinien,  eröffnete 1912 die Badeanstalt Hammerbrook, mit getrennten Schwimmhallen für Männer und Frauen, Fahrradräumen im Tief- und Bücherhalle im Hochparterre.31)

Badeanstalt Hammerbrook, an der Ecke Süderstraße und Heidenkampsweg, 191632)

Dafür gibt es Anlass. Die Wohnungen der Spekulationsbauten verfügen so gut wie nie über eigene Badeeinrichtungen. Doch seit der Cholera-Epidemie von 1892 legt die Stadt viel Wert auf eine hygienische Grundversorgung der Bevölkerung. Die Badeanstalten sind also weniger der Freizeitgestaltung gewidmet als der öffentlichen Gesundheit: Neben 1.600.000 Schwimmbädern (zu 15 Pfennig, einschließlich Badehose) wurden 1912 in Hamburg 713.000 Wannen- und 350.000 Brausebäder verkauft, der Staat subventionierte jeden Besuch rechnerisch mit 17,4 Pfennigen.

Schlechter Start für die Demokratie

Nach der Revolution von 1918/19 wählte Hamburg am 28. März 1919 erstmals seine Bürgerschaft in freier und gleicher Wahl. Die SPD dominierte das Parlament und regierte gemeinsam mit der Deutschen Demokratischen Partei. Arbeiterkultur und -bildung, gewerkschaftliche und genossenschaftliche Organisationsformen erlebten eine Blüte. Die Arbeiterturnvereine – zum Beispiel – waren nicht mehr vom Zugang zu Schulturnhallen ausgeschlossen und erhielten viel Zulauf. Zugleich trafen schwere soziale und wirtschaftliche Krisen die Stadtgesellschaft. Viele Arbeiter waren in den Knochenmühlen des Ersten Weltkrieges getötet worden. Die Revolution vertiefte die ideologischen Gräben. Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise und politische Instabilität sorgten für unsichere ökonomische Verhältnisse. Die Spaltung in einen sozialdemokratischen und einen kommunistischen Flügel schwächte die Arbeiterbewegung.

Die Berichte der Zeitzeugen aus dieser Zeit sprechen weniger von Not und Hunger, wohl aber von Arbeitslosigkeit, Armut und langen Schlangen bei der Wohlfahrt. Auch die zunehmenden politischen Konflikte und die eigene politische Positionierung spielen eine Rolle in den Erinnerungen. Roland Burmeister, Jahrgang 1926, beschreibt in seinem Erinnerungsbuch eine Szene, die sich ihm 1932 beim Blick aus der Wohnung in der Marchmannstraße bot:

„Eines Abends kam dem urbanen Rundumblick aus dem vierten Stock ein unpoetisches lautes scheußliches Geschehen in die Quere. Anschwellende Lieder­fetzen völkischer Gesänge drangen gleichzeitig von links und von vorn stetig näher. Links, das hieß aus der Marckmannstraße, vorn meint Billhorner Mühlenweg, vom Röhrendamm her. Direkt auf unser Eckhaus an der Kreuzung bewegte sich die Kakophonie zu. In Bewe­gung gesetzte unausweichliche Bedrohung. Synchroner konnte es nicht sein: Wie von höherer Regie in Marsch gesetzte Marionetten trafen genau unter unseren Fenstern die Kolonnen, die Fahnen, die Stiefel, die Schalmeien, die Schlachtgesänge aufeinander. Urplötzlich stechen schrille Pfiffe aus Trillerpfeifen bis auf den Grund des Trommelfells: und in der Sekunde, in Windeseile wird aus Ordnung Chaos, aus Gleichschritt wird Anrennen. Rot gegen Braun gegen Rot gegen Braun. Statt Schlachtgesängen nur noch Schlacht. Schreie gellen, Fäuste fliegen, Stiefel treten, Mützen fallen. „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.“ Von dritter Seite tönt jetzt Hupen, lautestes Hupen: Polizei! Mannschaftswagen, Einsatzwagen fahren auf. Tschakos blitzen. Gummiknüppel wirbeln. Scheinwerfer auf Kommandowagen leuchten die Häuser ab, tauchen Giebel und Fassaden in gleißendes Licht. Besonders Dächer. Licht, gebündelt, streift die oberen Fenster. ,,Zurück da! Weg vom Fenster!” schreit die Staatsmacht über Megaphon. Kopfeinziehen, sofort, wie befohlen. Angst. Schon peitschen Schüsse, zweimal, dreimal. Und rennen und retten und Straße räumen. In wenigen Minuten ist Ruhe. Unheimli­che Stille. Auf dem Pflaster zerrissenes Fahnentuch, rotes mit schwarzen Haken auf Weiß, in Fetzen. Ein paar Meter weiter rotes Tuch, nur rot, ganz und gar. Überm Gulli die Reste einer verwe­genen Mütze. Blutlachen.“33)

Stadtteilgeschichte in Stolpersteinen

Vorgeschichte und Ablauf der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 sind lokalhistorisch an der Bille wenig dokumentiert oder erforscht. In Zeitzeugenberichten – die heute ja immer die Rückschau auf Kindheits- und Jugendtage sind – wird sie kaum wahrgenommen. In den Chroniken der Arbeitersportvereine wird ihr Verbot im Oktober 1933 denkbar kurz abgehandelt.
Auch die lokale Konkretisierung von nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik ist aus Erinnerungsliteratur, Vereins- und Unternehmensgeschichten nicht zu erfassen.
Mit dem Projekt „Stolpersteine“ von Gunter Demnig öffnet sich hier eine neue Perspektive: In die Gehwege eingelassene Messing-Pflaster erinnern mit Namen und Lebensdaten an Menschen, die von den Nationalsozialisten umgebracht wurden. Mehr als 130 solcher Stolpersteine liegen inzwischen in Hammerbrook und Rothenburgsort. Zu jedem Stein wurden von engagierten, ehrenamtlich tätigen  Forscher:innen ausführliche Biographien erarbeitet und sowohl in Buchform als auch online veröffentlicht.34) Damit werden die Geschichten von Menschen wie Helmuth Hübener aus der Sachsenstraße, der mit 17 Jahren als Widerständler hingerichtet wurde, und August Postler aus der Stresowstraße, dem Sturmpartner von „Old Erwin“ Seeler in Lorbeers Meistermannschaft, der 1934 im Polizeigefängnis zu Tode kam, für uns zugänglich und gegenwärtig. Die Stolpersteine erzählen nicht nur über die Morde und die brutale Realität der rassistischer Vernichtungsideologie. Sie erzählen auch über Leben, Beruf und Alltag, über die Verbindungen und Wege der Menschen, deren Namen hier genannt sind. In jedem Stolperstein steckt ein großes Stück Stadtteilgeschichte.

Zwei der nationalsozialistischen Verbrechen in der Bille-Region sind durch besondere Gedenkorte gekennzeichnet.
Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm erinnert an 20 jüdische Kinder, ihre vier Pfleger und 24 sowjetische KZ-Häftlinge, die am 20. April 1945 im Keller der zu diesem Zeitpunkt ausgebombten Schule von SS-Männern erhängt wurden. Wenige Schritte entfernt, direkt an einer der Hauptstraßen des Industriegebiets, aber doch still und abgeschieden, liegt der Rosengarten für die Kinder vom Bullenhuser Damm, an seinem Eingang erinnert eine Bronzeplastik von Anatoli Mossitschuk an die ermordeten sowjetischen Bürger.35)

Seit 1980 gibt es den Rosengarten für die Kinder vom Bullenhuser Damm. Seit 1985 erinnert eine Bronzeplastik von Anatoli Mossitschuk am Eingang zum Rosengarten an der Großmannstraße auch an die sowjetischen Gefangenen, die hier ermordet wurden.

Vor dem ehemaligen Kinderkrankenhaus in der Marckmannstraße 135 in Rothenburgsort machen eine schwarze Tafel und Stolpersteine darauf aufmerksam, dass hier mindestens 56 behinderte Kinder im Rahmen eines offiziellen Verwaltungsverfahrens, des „Reichsausschussverfahrens“, durch Ärzt:innen getötet wurden. Nach Dr. Carl Stamm, dem Leiter der Klinik bis 1933, ist ein kleiner Park in der Nähe benannt, auch für ihn liegt ein Stolperstein vor dem Krankenhaus.36)

Kein Untergang

Von 0.55 Uhr bis kurz nach 2 Uhr am Mittwoch, den 28. Juli 1943 bombardierten mehr als 700 Flugzeuge der Royal Air Force die Stadtteile des Hamburger Ostens. Es war der 142. Luftangriff auf Hamburg, der fünfte von sieben, die vom 25. Juli bis zum 3. August im Rahmen des alliierten Unternehmens mit dem Decknahmen „Gomorrha“ geflogen wurden. Gut 1000 Tonnen an Spreng- und Brandbomben trafen das Häusermeer von Hammerbrook, Rothenburgsort, Borgfelde, Hamm und Eilbek, in dem mehr 400.000 Menschen in Bunkern und Kellern Schutz suchten.

Innerhalb weniger Stunden entwickelte sich ein Feuersturm, mit je nach Gebiet unterschiedlicher Intensität. In seinem Zentrum, in der Süderstraße zwischen Ausschläger Weg und Grevenweg, werden Luftgeschwindigkeit über 45 m/s – Orkanstärke – angenommen. Was die Bomben nicht zerstört hatten, vernichtete das Feuer. Mehr als 30.000 Menschen starben, die meisten davon auf den Straßen, nachdem sie ihre Schutzräume verlassen hatten. Mehr als 90% der Gebäude in Hammerbrook und am Röhrendamm verbrannten.37)

Blick vom Rothenburgsorter Wasserturm nach Norden, kurz nach dem 28. Juli 1943. Die aus Stein gebauten Fassaden und Außenwände der Wohnhäuser stehen noch, sie wurden später oft wegen Einsturzgefahr eingerissen oder gesprengt. Die Dachstühle und Zwischenböden aus Holz sind verbrannt. Links der Bildmitte der Stumpf des St. Thomas-Kirchturms, zentral im Hintergrund der Rangierbahnhof, darüber am Bildrand das Kraftwerk Bille/Campestraße, rechts der Billhorner Deich.

Die Berichte vom Überleben in diesem Inferno sind in ihren Details und ihrer Unmittelbarkeit schwer auszuhalten.38) Die Überlebenden tragen – trugen, viele sind in den letzten Jahren gestorben – ihr Leben lang schwer an der Angst und an den Bildern und Erinnerungen aus dieser Nacht. Mehr Mut, als dafür, diese Erinnerungen zu hören, braucht es – brauchte es – dafür, sie zu berichten.

Ob als Gespräch oder als Text, die Erzählungen vermitteln, suchen und schaffen immer auch: Kontinuität. Es stellt sich heraus, dass der Akt des Berichtens und des Zuhörens, des Aufschreibens und des Lesens, eine Brücke auch über die Abgründe der Geschichte bauen kann. Diese Brücke erlaubt es, die Bombennächte von 1943 nicht als „Untergang“ oder „Auslöschung“ zu verstehen, sondern vielleicht als Bruch oder Beschädigung, jedenfalls als ein Ereignis mit Gründen und mit Folgen, mit einem Vorher und einem Nachher.

Es ist irritierend, wie gründlich Hammerbrook und Rothenburgsort – bis 1943 dichte, quicklebendige Stadtteile – für Jahrzehnte nach dem Krieg aus der Wahrnehmung vieler Hamburger:innen verschwinden konnten. Vielleicht haben sie die allgemein verbreitete Metapher vom „Untergang“ dieser Stadtteil im Bombenhagel zu wörtlich genommen? Und womöglich ist diese Metapher ein Ausdruck der kollektiven Tabuisierung der Erfahrung von Krieg, Verlust, Verbrechen und Schuld.
So konnte die Hamburger Stadtplanung Hammerbrook, Rothenburgsort und die Bille bis heute als unwirtliche Leerstelle und Verfügungsraum behandeln. So boten sich jedoch auch Nischen und Freiheiten für Individuelles und Kollektives, für die Billstraße wie für die Wendenstraße, für Werkstätten wie für Kleingärten.
Dieses jüngste Kapitel der Geschichte der Bille-Raums ist zur Gegenwart hin offen. Seine Verbindung zur Vergangenheit, zu den Identitäten, Erzählungen, Brüchen und Traditionen eines aufregenden Stücks Stadt macht es um so interessanter.

Fußnoten

1 Lappenberg, S. CLIIf
2 Hamburgs frühe Geschichte hier im Digitalen Geschichtsbuch der Stadt wunderbar systematisch und lesbar.
3 Hübbe 1869, S. 25
4 Koppmann 1867, Anhang 1
5 vgl. Lappenberg 1845
6 Hübbe 1869, S. 30f. Welche der Gebiete genau wann, von wem an wen in welcher Weise übertragen wurden, ist oft unklar bzw. Auslegungssache. Nicht nur aus heutiger Sicht. Darüber, was in dieser Zeit mit welchen Rechten vom zwischen Hamburg und Holstein übertragen wurde, gab es in der Folge viele Zwistigkeiten, auch kriegerische, die sich erst 1778 mit dem Gottorper Vertrag einigermaßen erledigten.
7 Als Teil der Vorstadt heißt der Bereich des Hammerbrooks westlich des Retranchements nun St. Georg-Süd.
8 nach Körner 1907, S. 21; im Zusammenhang mit den Verhandlungen um die Verfassungsänderung von 1712 („Hauptrecess“)
9 laut Horner Chronik
10 Campe verfasste wohl hier das offenbar sehr erfolgreiche Jugendbuch „Robinson der Jüngere“ von 1779; als google-book hier
11 Die Stadtreinigung ist bei der Umbenennung nicht vollständig mitgegangen und zeigt auf ihrem Betriebsgelände, über das beide Straßen liefen, weiterhin die alten Straßenschilder. Im Hammer Park erinnert ein Gedenkstein – nach der Umsetzung nach 1943 leider an falschen Ort – an der Wirken Campes.
12 Schönberg 1898
13 ebd.
14 Funke 1966
15 Geisler 1871, S. 66
16 Ralf 2000, S. 94; einen faszinierenden Rückblick auf das Leben  H.C. Meyers (und das des Hamburger Bürgertums im 19. Jahrhundert) bieten die Erinnerungen seines Sohnes Adolph Christian (Meyer 1887). Der wird nicht müde, zu erklären, dass sein Vater bei allem Gewinn, den seine Unternehmungen einbrachten, doch stets vor allem das Wohl der Stadt im Sinn hatte.
17 Ziegenbalg 2002 bietet eine spannende Aufzählung und Beschreibung der frühen Industrieanlagen an der Bille.
18 Evans 1990, S. 91
19 Ralf 2000
20 Joho 2017
21 vgl. Ralf 2000, S. 36 u. Klessmann 1981, S. 460ff
22 in: Hinrichsen 1982, S. 150
23 AIV 1890
24 Grafik aus AIV 1890
25 Hinrichsen 1982, S. 151
26 Hopp 1962
27 nach: Joho 1993 und Recherchen von Heinrich Nahr. Johann Christoph Friedrich GutsMuths war ein philanthropischer Pädagoge mit besonderem Interesse für Leibeserziehung. Er war Lehrer von Turnvater Jahn und galt lange als weniger national vereinnahmt. Die Arbeiter-Turnbewegung betrachtete ihn als  Urvater des Turnens.
28 Seelers Wechsel zum bürgerlichen SC Viktoria im Jahr 1932 wurde in der Arbeitersportbewegung mit Verachtung („Paradepferde für die Kassen der bürgerlichen Bewegung“) kommentiert. Die FT 1896 und Lorbeer fusionierten 1946 zur heutigen FTSV Lorbeer Rothenburgsort v. 1896. Lorbeers Frauen-Fußballteam gewann am 17. Juni 1971 die ersten Hamburger Meisterschaften (2:0 gegen SC Sperber) und war bis in die frühen 90er Jahre auch in der Oberliga kaum zu schlagen.
29 zitiert nach: Biller Ruder Club 1999
30 Ziegenbalg 2002, S. 45 ff
31 AIV 1914, S. 400 ff
32 Fotos aus AIV 1914
33 Burmeister 1997
34 Thevs 2007, Thevs 2011, Behrens 2009; https://www.stolpersteine-hamburg.de/
35 Schwarberg 1988;  http://www.kinder-vom-bullenhuser-damm.de/
36 Ausführlich erzählt die Geschichte Hildegard Thevs, s. Thevs 2011
37 Die Zahlen und Daten dieser Darstellung orientieren sich an Brunswig 2003
38 zum Beispiel: Stadtteilarchiv Hamm 2001, Biermann 2003, Lang 2003/2013, Brunswig 2003. Das Stadtteilarchiv Hamm sammelt seit 1987 systematisch Zeitzeugenberichte aus der Region und hat sie in zahlreichen Veröffentlichungen publiziert.
39 Bei Goliath wurde neben Ringen, Gewichtheben und Kugelstoßen und auch Tauziehen und „Akrobatik“ betrieben.

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